Gastbeitrag: Vom Essentialismus zum Totalitarismus – Teil 3

Weshalb ist diese Strömung so anfällig für Totalitarismus?

von @zusehrverkuerzt

Im dritten und letzten Teil meiner Gastbeitragsserie (Teil 1, Teil 2) möchte ich anhand von ein paar Beispielen erklären, wie Essentialismus in der Praxis zwangsläufig in totalitären Tendenzen mündet.

Mein Eindruck ist, ohne die essentialistischen Gründe für den Furor der SozialkonstruktivistInnen zu verstehen, kann man als empirischer Rationalist auch nicht verstehen, warum die Vielfalt der Geschlechter für die queeren Sozialkonstruktivisten einen derart religiösen Charakter einnimmt. Denn ich weiss ja, dass ‚Junge‘ und ‚Mädchen‘ nur Kategorisierungen darstellen und sonst nichts, keinerlei moralische Implikation beinhalten, und nicht bedeuten, dass alle Jungen gleich sind, oder dass alle Mädchen gleich sind (aber immer anders als die Jungen, wie von den alten Traditionalisten oft auch aus (anderen) essentialistischen Gründen behauptet), oder dass es nichts anderes gibt als genau diese zwei Möglichkeiten. Man kann den meiner politischen Meinung nach nicht vertretbaren *konservativen* und *religiösen* (auch oft essentialistischen) Widerstand gegen die Öffnung der Gesellschaft in Bezug auf Menschen mit nicht ‚eindeutigen‘ Geschlechtsidentitäten oder sexuellen Präferenzen nun wirklich nicht den nicht-Essentialisten in die Schuhe schieben, und all die interessanten Dinge über die Biologie der nicht-eindeutigen Geschlechter haben ja nun auch die MedizinerInnen herausgefunden und nicht die Sozialkonstruktivisten. Genauso, wie auch die MedizinerInnen herausgefunden habem, wie gefährlich es sein kann, wenn man Medikamentenstudien immer nur an Männern macht, auch wenn die Sozialkonstruktivisten nun so tun, als wäre diese Offenbarung auf ihrem Mist gewachsen. Die SozialkonstruktivistInnen dagegen hatten große Schwierigkeiten, aus einer dialektischen Tradition des Denkens zumindestens partiell auszubrechen: Was für alle anderen Menschen ganz normal ist, nämlich dass es mehr als These und Antithese gibt, ist für das dialektische Denken ein Problem, daher sind sie so Stolz auf ihre angebliche Leistung der bahnbrechenden Erkenntnis, dass es nicht nur 2 immer eindeutige Geschlechter gibt.

Umgekehrt ist es natürlich so, dass die empirischen Rationalisten Naturwissenschaft als etwas befreiendes empfinden. Ihr vertiefendes Verständnis der Natur ermöglicht medizinische, mechanische, elektronische Technologie, welche unser Leben verlängert, verbessert, unsere Entfaltungsmöglichkeiten vervielfacht (man denke nur an das größte Geschenk, das die Elementarteilchenphysik den Sozialkonstruktivistinnen machte: Das freie World Wide Web.), uns von dem Zwängen der Natur befreit (man denke nur an die Pille oder das einigermassen sichere Kondom, welche nicht wirklich eine Erfindung der Sozialkonstruktivisten sind). Für den/die empirischen Rationalisten ist das überkommene Patriarchat in den Naturwissenschaften ein von der naturwissenschaftlichen Methodik unabhängiges Phänomen. Warum sollte die objektiv korrekt vorhergesagte und objektiv messbare Masse des Higgs-Bosons auch irgend etwas damit zu tun haben, dass Naturwissenschaft in einer der patriarchalsten Phasen der Menschheitsgeschichte gross geworden ist und daher Wissenschaftler ihre gesellschaftlichen Wertvorstellungen dort übernahmen, wo sie ihre Mitarbeiter aussuchten. Dafür gibt es objektiv in der naturwissenschaftlichen Methodik keinen Grund. Wir können also, ohne an Theorien und Ergebnissen (die wir aus anderen Gründen sowieso *dauernd* hinterfragen und kritisieren, auch wenn die Sozialkonstruktivisten uns das nicht glauben und nicht verstehen, wie wir das machen) oder der Methodik etwas zu ändern, einfach andere normative Vorstellungen über die Rolle der Geschlechter in die Naturwissenschaft integrieren, Frauen wesentlich besser fördern als bisher (es lässt sich unzweifelhaft experimentell nachweisen, dass Frauen in der Vergangenheit und bis heute mal mehr, mal weniger als Wissenschaftlerinnen benachteilgt wurden, und das ist für mich inakzeptabel), und dann mit der gleichen wissenschaftlichen Methodik noch besser weitermachen als zuvor.

Der/die Essentialist kann das nicht so einfach: Die Essentialisten begreifen Naturwissenschaft als Teil des patriarchalen Hegemonialzusammenhangs, sie sind wesenhaft verknüpft mit der Herrschaft des weißen Mannes, denn sie sind seine Schöpfung. Daher ist die Naturwissenschaft aus ihrer Sicht inhärent rassistisch und patriarchal, und muss grundlegend anders konstruiert werden, um gerettet zu werden, und auch alle Ergebnisse und Theorien der Naturwissenschaften müssen sozial hinterfragt werden. So, als hätten wir die Funktion eines Transistors mit der Natur sozial ausgehandelt. Dass sie dann inhaltlich nicht mehr funktionieren würde, kein WWW oder die Pille oder Antibiotika erfinden könnte (oder zumindestens die Technologie für solche freiheitserweiternden Erfindungen nur noch ganz langsam zufällig entdeckt würde, so wie im technologisch fast stillstehenden vorwissenschaftlichen Zeitalter): egal. Und hier sieht man einmal mehr das Totalitäre ihrer Forderungen: Wesenshafte willkürliche Festlegungen über die Natur der Geschlechter und der Herrschaft werden benutzt, um alles, auch noch das evon der politischen und sozialen Kultur des Menschen entfernteste als „illegitim“ zu „konstruieren“.

Ein anderer lustiger Aspekt liegt im Vergleich der schon dargestellten Folgen der sozialkonstruktivistischen Sicht auf die Geschlechter mit religiösen Formen des essentialistischen Dogmatismus: Die Essentialsten greifen natürlich inhaltliche Aussagen über die Grundlage unserer Gesellschaft und biologische Aussagen über Tendenzen in unserem Verhalten am allerliebsten an. Etwas über das Higgs-Boson herauszufinden kann ihnen relativ egal sein. Sie mögen sich über die Teilchenphysik lustig machen, weil sie sie nicht verstehen (was dann wiederum unendlich amüsant ist, wenn man den methodischen und inhaltlichen Schrott liest, der dabei herauskommt, wenn sie Naturwissenschaft aus ihrer Sicht ‚hinterfragen‚), aber sie greifen sie selten frontal an. Genauso, wie sich Kreationisten auch nicht aufs Higgs stürzen, und lustigerweise noch nichtmal auf den Big Bang, sondern auf die Evolution. Die Theorie und Beobachtung der Evolution mit ihrer naturalistischen Erklärung der Natur und der temporären Entwicklung des Menschen untergräbt die göttliche Schöpfung *komplett*. Genauso bei den Essentialsten: Die Idee, dass es nicht nur wie oben beschrieben Definitionen, Werte und Regeln sind, auf denen (ihrer Meinung nach) die Gesellschaft komplett beruht, zieht ihrer Weltsicht den Boden unter den Füßen weg. Eine testbare Aussage, dass “Jungen“ und “Mädchen“ (eine reine Kategorisierung mit im Prinzip fließenden Grenzen in der Wissenschaft, wesenshafte Aussagen über ihre Gleichheit und Gleichwertigkeit für die Sozialkonstruktivisten) sich von der Geburt an oder sogar qua gesellschaftlich unsichtbarer Herkunft ihrer Chromosomen in bestimmten Punkten anders verhalten (was empirisch belegt ist, aber ohne Essentialismus auch ohne jede moralische direkte Konsequenz ist), ist für die Essentialisten notwendigerweise eine Wertaussage über ihre gedachte, konstruierte Version des Ideals “Junge” und “Mädchen”. Weil sie aus Gründen eines Werturteils aber zu dem legitimen Schluss gekommen sind, dass Jungen und Mädchen und alles andere gleichwertig sein soll, können sie diese Aussage nicht akzeptieren, sie ist in ihren Augen moralisch verwerflich, auch wenn sie aus Sicht der Wissenschaftlerin gar nichts moralisches an sich hat. Denn sie können zwischen Werturteil und testbarer Aussage über die Realität nicht unterscheiden, weil all ihr ‘Wissen’ konstruktionsbedingt in Werten (und Definitionen) steckt.

Da liegt dann die ganze Tragik offenbar: Sie werfen liberale Kritiker ihrer Fehlschlüsse mit religiösen Irren in einen Topf, und begreifen gar nicht, dass sie von den Liberalen kritisiert werden, eben weil sie exakt die gleichen Fehler machen und exakt die gleiche Taktik anwenden wie die Kreationisten, also religiöse Irre.

Und noch ein anderer lustiger Nebenaspekt: Die Weltsicht der essentialistischen Sozialkonstruktivisten kollidiert natürlich überall mit der Realität, aber an eine Stelle finde ich es ganz besonders lustig: Bei sexueller Identität und Transgender. Denn natürlich sagt ihnen ihre Idee von Freiheit, dass es nicht nur Mädchen und Jungen gibt, und nicht nur XY Jungs, die sich als Mädchen fühlen, und so weiter. Nur laufen wir jetzt in ein kleines Paradoxon ihn ihrer Denkweise: Z.B. ein Schwuler ist schwul (etwas anderes als dies essentialistische Aussage können sie ja nicht denken). Er darf nicht nur nicht ‚umerzogen’ werden, es ist auch verboten verpöhnt, zu behaupten, es wäre seine Wahl gewesen. Nur dummerweise *darf* es ihrem Dogma nach keine biologischen Grundlagen unseres Verhaltens geben, denn dann gäbe es ja eine nicht direkt per Beschluss beeinflussbare Realität, welche unser gesellschaftliches Handeln viel stärker bestimmt als uns u.U. bewußt ist. Daher sind wir nun in der paradoxen Situation, dass der Schwule offenbar *transzendent* schwul ist, nämlich unabhängig von seiner biologischen (z.B. hormonellen) Konstitution. Die Hypothese aufzustellen, ein Schwuler wäre schwul, weil er halt hormonell anders gepolt ist, das würde einen tollen Shitstorm ergeben. Denn das wäre ja biologistisch. Das gleiche bei Transgender: „Gender“ ist per Definition wesenhaft gesellschaftlich. Das ist ja gerade der Unterschied zwischen Gender und Sex. Aber ein Transgender ist so, wie er/sie ist, und kann nicht umerzogen (umkonstruiert?) werden und hat keine freie Entscheidung. Deadlock, hm? Und wenn man jetzt noch nicht sieht, dass der essentialistische Sozialkonstruktivismus eine abgefahrene Religion ist, dann weiß ich auch nicht.

Die Konfrontation zwischen den im weitesten Sinne liberaler agierenden ProponentInnen der Gleichberechtigung und den SozialkonstruktivistInnen hat also nicht so sehr etwas damit zu tun, dass die Essentialsten machtbesessen sind, und einfach machtbewusste Strömungen in einer politischen Bewegung gegeneinander antreten, so wie z.B. von Katrin Rönicke hier behauptet. Sondern es geht um einen Kampf der Kulturen. Der Essentialismus bekämpft das, wo seine Vertreter bemerkten, dass Inhalte in die Sphäre der essentialistischen Jünger drängen, die den Essentialismus untergraben könnten. Deshalb lassen z.B. die illiberalen Netzfeministinnen auch z.B. @drehumdiebolzen (inzwischen, das war mal anders, als sie mit denen noch direkter in Kontakt war) in Ruhe: Sie zeigt ihnen nur die Zähne, aber sie machst nichts mehr, was die Jünger des Essentialismus subtil verunsichern könnte. Im Gegensatz dazu sind Katrin Rönicke oder @erzaehlmirnix lohnende Ziele für die illiberalen Netzfeministinnen, denn sie erreichen die naturwissenschaftsfernen gebildeten Schichten, welche für den Sozialkonstruktivismus so wichtig sind.

Vielleicht lohnen sich noch einige Worte zum Schluss. Natürlich gibt es gerade jetzt in unserer Gesellschaft wesentlich gefährlichere Feinde der Freiheit als die essentialistischen Sozialkonstruktivisten. Die Sozialkonstruktivisten sind größtenteils von humanistischen Motiven getrieben, was ich achtenswert finde. Es ist ’nur‘ ihre Methodik, welche sie intolerant macht. Viele, die ich kenne, sind nette Menschen, die niemandem etwas tun wollen.

Im Kontrast dazu ist der Essentialismus auch die Basis des Nationalismus, denn ohne wesenshafte Zuschreibung kann einem abstrakten Konstrukt wie dem Volk oder der Nation oder einer bestimmten Kultur natürlich gar kein Wert an sich zugewiesen werden. Und es ist offenbar, dass gerade jetzt die Herabwürdigung und Verfolgung von Menschen qua Herkunft oder Kultur aus Motiven der Xenophobie und der Angst eine große Gefahr darstellt, und natürlich können die essentialistischen SozialkonstruktivistInnen nichts dafür, dass ihre rechten und religiösen GegnerInnen auch Essentialisten sind, wenn auch im Normalfall wesentlich dümmere. So dumm, dass die rechten Essentialisten wirklich keinen Blogpost wert sind.

Von daher könnte man sich berechtigt fragen, warum gerade jetzt dieser ganz kleine Versuch der Weiterentwicklung einer auf den ersten Blick doch recht obskuren Debatte unternommen wird. Zum einen, weil ich einiges schlicht in der geistigen Schublade hatte und die Anfeindungen gegen die von mir geschätzte Katrin Rönicke mal wieder einen zufälligen Anlass bot. Auch wenn Katrin mir wahrscheinlich in vielem nicht zustimmen würde. Ich nehme noch dazu an, ihr ist meine Meinung egal.

Zum anderen aber, weil ich die linken Feinde Europas gerade gewaltig politisch gefährlich finde. das Projekt Europa ist eine Chance, den 200 Jahre alten (essentialistisch motivierten) politischen Irrtum des völkisch orientierten Staats mit eingebautem nationalen Wahn zu überwinden, und noch dazu die einzige reale Chance, politische Handlungsoptionen wieder zu vergrößern, was ganz praktisch nur mittels vertiefender Integration möglich sein wird. Die Angriffe der SozialkonstruktivistInnen auf Europa als essentialistisch wesenshaft ’neoliberal‘ bezeichnetes und damit automatisch illegitimes, asoziales, teilhabefeindliches und antiemanzipatorisches Projekt halte ich gerade dann für eine Gefahr, wenn Europa aufgrund genuinen xenophoben Hasses der größten Gefahr seiner Geschichte ausgesetzt ist. Man stelle sich vor, es gibt Veröffentlichungen, die sich für wissenschaftlich halten, in denen steht schon im Abstract „it also reflects a failure on the part of much of the resistance to adequately identify, and engage with, all of the terrain on which the battle against neoliberalism [in the EU] must be fought„. Das ist keine Wissenschaft, das ist Politik. Diese Debatte ist unendlich wichtig, aber es ist eine politische Debatte mit offenem Ausgang, ob wir in der EU mehr oder weniger Integration, mehr oder weniger soziale Sicherung wollen. Solche Wert- und Zielaussagen können, wie hier dargelegt, nur wissenschaftlich erscheinen, wenn man essentialistisch implizit Werte in seine Theoriebildung einbaut. Und genau deshalb denke ich, gerade jetzt ist es Zeit für diese Debatte.

 

 

Gastbeitrag: Vom Essentialismus zum Totalitarismus – Teil 2

Was zeichnet Essentialismus und Sozialkonstruktivismus aus?

von @zusehrverkuerzt

Gestern hatte ich anhand des Beispiels von Pluto erklärt, was Definitionen, Kategorien, Deskription und Normativität im empirisch-rationalistischen Sinne ist. Ich endete mit der Behauptung, Essentialisten können die empirisch-rationale Methode nicht verstehen.

Ich möchte mit einer kleinen Abgrenzung beginnen: Es geht hier explizit nur um essentialistisch argumentierende SozialkonstruktivistInnen. Ich möchte in keinem Fall implizieren, damit alle Geisteswissenschaften in einen Topf werfen zu wollen. Ich will nirgendwo in Frage stellen, dass die hier dargestellten Fehlschlüsse nicht überall verbreitet sind. Aber unter denjenigen SozialkonstruktivistInnen, welche z.B. biologische Ergebnisse aufgrund ihrer politischen Ungehnehmheit ablehnen, oder die wie eingangs erwähnt harmlose Comics zum Hass erklären, unter diesen sind die Essentialisten dominant. Umgekehrt (wie weiter unten auch noch einmal an anderem Beispiel erklärt) will ich ja auch nicht mit allen naturwissenschaftlerInnen in einen Topf geworfen werden. Xenophobe Propaganda wie diese zum Beispiel finde ich unerträglich, und die Wissenschaft als Vehikel für solche Ängste zu verwenden empfine ich als Schande.

Warum könnte das so sein, dass die nicht-empirischen Sozialwissenschaften so sehr am Essentialismus hängen? Es ist immer schwer, darzustellen, wie die Logik einer Bewegung funktionieren soll, in welcher man eine Menge Fehlschlüsse entdeckt hat. Ich werde mir Mühe geben. Zuerst eine historische Betrachtung: Meiner Ansicht nach steht am historischen Anfang dieser Ideen ein methodisches Problem: Wenn ich nun nicht die natürliche Realität, sondern die Gesellschaft ‚verstehen‘ möchte, dann stehe ich offensichtlich vor etwas anderen methodischen Herausforderungen als die Naturwissenschaft. Man könnte behaupten, die Gesellschaft sei einfach zu komplex, um sie mit denselben Methoden zu erfassen wie die Naturwissenschaft, aber ich würde dem vehement widersprechen. Inzwischen gibt es sehr viele interessante, wiederholbare, kontrollierbare gesellschaftswissenschaftliche Experimente. Aber dem war natürlich nicht immer so, und (wie ich denke) aufgrund der gedachten Grösse und Wichtigkeit ihrer Forschung haben sich die frühen Gesellschaftswissenschaftler oft nicht damit aufgehalten, kleine Brötchen zu backen. Das ist nämlich das eigentliche Geheimnis der Naturwissenschaften: Phänomene zu *isolieren*, zu untersuchen und sie zu beschreiben, egal wie abstrakt sie auch sein mögen im Vergleich zur grossen Schönheit der Natur, welche ja auch erstmal überwältigend komplex ist, man könnte gar behaupten, komplexer als die menschliche Gesellschaftsordnung. Wenn diese Gesellschaftswissenschaftler nun also komplexe Gesellschaften beobachten (deskriptiv, u.U.), dann stellen sie schnell fest, dass einzelne Beobachtungen nicht sehr hinfreich sind, die Geschichte zu kategorisieren und zu erklären, oder gar vorherzusagen. Da also weder Wille noch Einsicht zur Durchführung ‚langweiliger‘, langwieriger, ‚unbedeutender‘ reduktionistischer Experimente zu machen, welche zum Verständnis von Zusammenhängen notwendig sind, hat man sich, ohne sich an methodischen Zweifeln aufzuhalten, daran gemacht, Fehlschlüsse zu produzieren, welche mithilfe essentialistischer Konstruktionen verschleiert wurden. Ein historisch schönes Beispiel dafür, welches immer noch katastrophal nachwirkt, ist der Idealismus. Der geht kurz gesagt so: zwei widersprüchliche Ideen/Ziele/Entitäten in der Realität  nennen wir These und Antithese, und dazwischen muss es dann eine Synthese geben, welche die Lösung/nächster Entwicklungsschritt der Menschheit ist. Dumm nur, dass es versäumt wurde, im Raum der Ideen oder ‚widersprüchlicher Realitäten‘ eine Metrik anzugeben, so dass das ganze ganz offensichtlich nie *eine* Synthese „berechenbar“ machen würde. So etwas ist natürlich logisch unmöglich. Dumm auch, das Ganze dann einfach zu behaupten, ohne anzugeben, wie die Thesen, Antithesen und Synthesen mit der Realität in Bezug stehen sollen. Und das verschleiert man am besten mithilfe des Essentialismus: Der Idee, es gäbe ein „Wesen“, ein „Sein“, ein wahres erahn- oder erfassbares Wesen der Dinge. Von diesem „Wesen“ aus lassen sich dann Tendenzen implizieren, welche aufgrund ihrer Verquickung mit der Definition nicht mehr getrennt hinterfragt werden, und so lässt sich dann eine Synthese aus These und Antithese konstruieren, ohne das man (selbst) merkt, dass alle synthetischen Annahmen über Metrik, These, Antithese und Synthese in der angenommenen definierten Wesenheit der Ideen und Dinge versteckt hat. Ein Junge bzw ein Mädchen ist in diesem Denken keine reine Kathegorisierung eines XY oder XX-genetischen jungen Menschen mit bestimmten typischen primären Geschlechtsmerkmalen, sondern die Bezeichnung ‚Junge‘ ist eine Aussage über sein Wesen. Es ist an dieser Stelle wichtig, dass die Sozialkonstruktivisten es für ihre grandiose Leistung halten, diese Wesenheit von zu engen Vorstellungen über den *Inhalt* dieser Wesenheit befreit zu haben (ich neige daher dazu, sie ‚reformierte Essentialisten‘ zu nennen, oder vielleicht besser gar ‚doppelt reformierte Essentialisten‘, in dem Fall, dass wir schon die historischen Materialisten als einfach reformierte essentialistische Idealisten betrachten). Sie haben sich mit der Öffnung des Inhalts in Bezug auf die Wesenheit der Menschen aber gleichzeitig *nicht* von der Methodik entfernt, und das ist der Grund des ganzen Dramas, um das es hier geht. Deshalb weisen sie es auch weit von sich, Essentialisten zu sein: Der Inhalt ihrer Aussagen über die Menschen wurde von ihnen von einfachen Zuschreibungen befreit, darauf sind sie mächtig stolz. Ihre Methodik bleibt aber die gleiche. Es ist weiter wichtig zu beachten, dass es (jedenfalls für mich) zwar vollkommen lächerlich erscheinen mag, dass eine Definition eine Aussage über das Sein oder das Wesen beinhaltet, aber machen wir uns nichts vor: Diese Philosophie hat von Hegel über Marx, und in Form der Seinsfixiertheit Existenzphilosophen über Heidegger und Co, das komplette 20. Jahrhundert versaut beeinflusst.

Das war nun also die historische Abhandlung über die Gründe für die Idee, eine Definition könnte Information beinhalten. Es gibt natürlich (aus offensichtlichem Grund) keinen  logischen Grund für diesen Fehlschluss, aber eine weitere wichtige Motivation: Es liegt meist ein sprachanalytischer Fehlschluss vor: Wenn man Sprache a priori (und das mit dem a priori ist hier sehr wichtig) als künstlich und abstrakt denk- und benutzbar betrachtet, ohne Bezug auf die intersubjektive Beobachtung, dann gibt es den oben umrissenen experimentellen Ausweg aus der Zirkelschlüssigkeit der Definitionen nicht. Also muss es dann Elemente der Sprache geben, welche eine Wesenheit der Dinge, der Lebewesen, der Geselschaft, der Ideen wesenhaft direkt erfassen. Das ist dann halt Essentialismus. Das ist natürlich ein sehr offensichtlicher Fehler, aber er passiert offenbar leicht.

Ich würde das hier, nach dem gestrigen Blogpost, doch gerne noch einmal weiter ausführen. Es gab 3 Interaktionen mit Bezugnahme auf den gestrigen post, davon 2, die man als Diskussion bezeichnen könnte. Alle drehten sich interessanterweise hauptsächlich um die Interpretation der Bedeutung von Sprache. das verwundert nicht, denn meine Hypothese ist ja wesentlich, dass das fehlenden Verständnis derintersubjektiven Informationsübergabe durch Sprache ein wesentlicher Grund für die Verbreitung des Essentialismus ist. Daher hier noch einmal ein Beispiel: Es wurde in der Diskussion behauptet (ich versuche, das richtig wiederzugeben), dass wesensbehaftete Definitionen für die Naturwissenschaft notwendig seien. Denn „gross“ und „klein“ seien nicht anders erfassbar als durch Definitionen. Das ist klarerweise falsch. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Eine Person X spricht kein Deutsch und kennt die Bedeutung des Wortes „länger“ nicht. Person Y kennt „länger“, spricht die Sprache von Person X nicht, kann aber Experimente durchführen. Also wird so lange anhand von Beobachtungen geprobt, bis Person X immer dann dem Basissatz „Dieses A ist länger als dieses B“ zustimmt, wenn auch Y es tut. So wurde experimentell die Bedeutung von „länger“ vermittelt. Person X kann nun zuversichtlich, aber nicht absolut sicher sein, „länger“ „richtig“ verstanden zu haben. Doch was heisst „richtig“? Einfach nur, dass die Auswirkungen der Definition, die X verwendet, die gleichen sind, die auch Y verwendet (und vielleicht noch viele andere, da wir uns immer wieder gegenseitig experimentell und unbewusst unsere Definitionen abgleichen). Esist nun auch klar, dass sich durch einfache Vergleiche nun auch „gross“ und „klein“ intersubjektiv und ohne Essentialismus übertragen lassen.

Ich möchte noch ein anderes Beispiel verwenden: Farben. Ich kann nicht wissen, ob eine andere Person beim betrachten einer farbigen Fläche „wirklich“ das gleiche sieht wie ich. Rot sieht für mich halt rot aus, aber unabhängig von allen kulturellen Assoziationen (Wärme, Feuer, Liebe) kann ich natürlich nie sicher sein, dass jemand anderes „das gleiche“ sieht, ob er oder sie das gleiche Wesen der Farbe Rot erfasst. Das ist wirklich irritierend, auch für mich. Aber für die wissenschaftliche Methode ist es vollkommen irrelevant. Wichtig ist nur, dass wir diegleichen Beobachtungen mit „Rot“ verknüpfen. Und das ist experimentell überprüfbar und auch *nur* experimentell erlernbar. Nicht rot-grün blinde Kinder sagen halt ein paar mal „Grün“ zur Farbe des Feuerwehrautos, und irgendwann haben sie es sich dann gemerkt. Wir sehen an diesem Beispiel, dass der Schluss naheliegt, dass wir Menschen aufgrund der biologischen Konstritution unserer Wahrnehmung ’naive Essentialisten‘ sind, genauso wie wir auch ’naive Realisten‘ sind und ’naive Bayesianer‘. Und genau deshalb, weil wir tief in uns wollen, dass das Gegenüber das Wesen unserer Empfindungen versteht (auch wenn das streng logisch gar nicht geht, ja sogar das „Wesen“ wahrscheinlich noch nie vernünftig gefasst wurde), genau deshalb ist es so schwer, den Essentialismus trotz seiner offensichtlichen Fehlschlüssigkeit zu beenden.

Ich denke, es ist unbestreitbar, dass die typische Argumentationslinie der (starken) Sozialkonstruktivisten essentialistisch ist: „Die Gesellschaft IST ein Ergebnis einer sozialen Konstruktion“ ist für sie a priori wahr und nicht hinterfragbar (lustige Beispiele dafür auch im Originalton in Harald Eias „Brainwash: The Gender Equality Paradox“). Derartige Beispiele finden sich überall, in einem wahnsinnig lustigen Text versucht sich Bruno Latour sogar an Einstein mit derartigen „Argumenten“. Es gibt für diesen inhärenten Essentialismus viele andere Beispiele: „Blackfacing ist rassistisch“, „DefMa abzulehnen ist antifeministisch“, „Kapitalismus ist asozial“, und dies abzulehnen, ist Hass.

Es ist also für die Essentialisten das Wesen des Sozialen, dass es von Menschen gemacht, also konstruiert ist. Damit sind wir wieder bei dem zentralen Satz aus dem Erkenntnisgewinn-Post aber diesmal anders geklammert: „Darin spiegelt sich eine zunehmend antiintellektuelle, ja autoritäre Geisteshaltung, die sich weigert, [] Gesellschaft als immerwährenden Prozess von Aushandlungen zu verstehen.“ In Schutzbachs Denken ist es eine autoritäre (Achtung, implizite Wertung!) Verletzung der Freiheit zur Konstruktion der gesellschaftlichen Realität, sich ihrer a priori getroffenen Behauptung nicht anzuschliessen. Gesellschaft ist in ihrer Wesenheit im sozialkonstruktivistischen Denken aushandelbar, und zwar vollkommen. das liegt ja in ihrem Wesen. Deshalb heissen diese Leute schliesslich Sozialkonstruktivisten. Und daran ändert auch ihre angebliche Selbstdekonstruktion nichts. Dieser Startpunkt ist genauso offenbar essentialistisch wie dogmatisch. Deshalb kann in ihrem Denken der Inhalt der Gesellschaft, also soziale Bezüge wie die Rolle von Mann und Frau, a priori vollkommen unabhängig von der biologischen Konstitution konstruiert, also auch verändert werden. Und ich denke, an diesem Zitat sieht man endlich, warum es mir so wichtig ist, darauf hinzuweisen, warum ich das Grundproblem im Essentialimus sehe: Wären sie einfach „nur“ Sozialkonstruktivisten, aber mit naturwissenschaftlicher Methodik, dann könnte die legitime (aber tendenziell eher nicht zutreffende, sicher nicht in ihrer starken Form) Aussage „Meine Hypothese ist, dass das Verhalten von Jungen und Mädchen nur/dominant gesellschaftlich beeinflusst ist und nicht/untergeordnet durch biologische Faktoren“ als einfache falsifizierbare testbare Hypothese aufgefasst werden. Diese Hypothese ist an sich, wenn man sie nicht essentialistisch versteht und zum Dogma erhebt, also reine synthetische Hypothese ja auch vollkommen unproblematisch (wenn auch ijn ihrer strengen Form klarerweise wissenschaftlich widerlegt). Man kann dann sozialwissenschaftliche und biologische und psychologische Experimente machen, um zu versuchen, diese These zu testen. Wenn es nur das wäre, dann gäbe es keinen Grund, über Menschen herzufallen, die anderer Meinung sind als die Sozialkonstruktivisten. Man würde Experimente machen, und sie diskutieren, und sehen, ob das Statement funktioniert oder nicht. Und nicht auf die abstruse Idee kommen, es als Frauenhass darzustellen, wenn man darüber nachdenkt, wie groß der Gender Pay Gap ist, oder darüber, dass es Experimente gibt, die zeigen, wie unser Verhalten genetisch und hormonell beeinflussbar ist. Das als Frauenhass zu bezeichnen, das ist totalitär, und es ist eine direkte Folge der essentialistischen Methodik. Die Aussage „Menschen unterliegen in ihrem Verhalten nicht nur konstruierten kulturellen Einflüssen, sondern auch im Mittel je nach Geschlecht unterschiedlichen (teilweise periodischen) biologischen Einflüssen in Form ihrer Instinkte/in Form hormoneller Beeinflussungen.“ untergräbt aus Sicht der Essentialisten das Wesen der Gleichheit der Geschlechter. Sie können die Aussage über die Beobachtung der Realität nicht von der Aussage über das gesellschaftliche Ziel der gleichen Freiheit und Entfaltung aller Menschen denken — beides ist für sie wesenshaft miteinander verbunden. Daher begreifen sie eine deskriptive Tatsachenbehauptung als normative Abwertung. das bezeichnen sie dann als Hass.

Ich möchte noch einnmal betonen, dass ich mich hier nur auf essentialistisch argumentierende Sozialwissenschaftler oder Agitatoren beziehe. Diese gibt es unbezweifelbar in großer Zahl. Natürlich gibt es Beispiele für wissenschaftlich arbeitende SozialwissenschaftlerInnen, die meine ich hier aber nicht. Sondern genau die, welche jede Aussage, jedes Ergebnis als patriarchal/hegemonial/wie auch immer politisch ablehnen, das ihrer Essenz nicht in den Kram passt. Oder halt Naturwissenschaften einfach nicht verstehen und daher meinen, das sei halt nur so unreflektierte Projektion patriarchaler und cissexistischer Vorstellungen auf die Natur.

Dies ist die zentrale Aussage dieses Posts: Das Problem des Sozialkonstruktivismus, des Essentialismus, des Totalitarismus hat eine methodische Grundlage. Aufgrund dieser methodischen Grundlage zerstören die Essentialisten die Freiheit des Individuums, wo immer sie an die Macht kommen. Selbst wenn sie dabei manchmal die humanistischsten Ziele haben mögen. Denn in ihrem Denken verbieten sich alle Aussagen qua Definition, welche ihren willkürlichen a priori getroffenen normativen Definitionen widersprechen. Wer, wie oben beschrieben, ihre Definition der absoluten Gleichheit der Geschlechter auf naturwissenschaftlicher Grundlage deskriptiv hinterfragt, begeht in ihren Augen einen normativen, moralisch zu verurteilenden Fehler, der geahndet werden muss. Das Ende der Freiheit, auch wenn sie selbst oft behaupten, dass ihnen Freiheit am Herzen liegt.

Aber weiter: Eben weil die Sozialkonstruktivisten Essentialisten sind, ist die Weigerung, ihre wesenhafte Wahrheit „das Verhalten von Jungen und Mädchen ist gesellschaftlich beeinflusst ist und nicht durch biologische Faktoren bestimmt“ anzuerkennen, für sie ein Angriff auf die wesenhafte Wahrheit, welche sie glauben, selbst entdeckt zu haben: Dass die „wesenhaften“ Beschreibungen von Jungen und Mädchen (an der sie festhalten) keine absolue Aussage über deren Verhalten und Rolle in der Gesellschaft machen. Denn darauf fußt ja das ihrige Modell der Gleichberechtigung: Jungen und Mädchen und alles dazwischen sind gleichwertig (haben die Sozialkonstruktivisten revolutionär erkannt!!! Wäre niemand sonst drauf gekommen!), also auch wesenhaft gleich in ihrem gesellschaftlichen Potential. Wenn man nun die biologische Realität anerkennt, dass man experimentell Unterschiede im *mittleren* Verhalten/Denken/Hormonhaushalt/etc von Männern/Frauen, Cis/Trans, Homo/Hetero feststellen kann, die sich nicht einfach durch gesellschaftliche Strukturen erklären lassen (z.B. Simon Baron Cohen – Vom ersten Tag an anders, Karl Grammer – Signale der Liebe), so ist das für die Essentialisten ein Angriff auf ihre moralische, also normativ belastete Aussage „Jungen und Mädchen und alles dazwischen sind wesenhaft gleich in ihrem gesellschaftlichen Potential“. Ihre normative, moralische Aussage der Gleichwertigkeit aller Geschlechter fusst auf einer essentialistischen Aussage über ihre gleiche gesellschaftliche Wesenheit. Für den empirisch-rational denkenden Menschen stellt sich das ganz anders dar, sie/er/es kann den Furor der Essentialisten nicht verstehen: die Experimente über die biologischen Unterschiede im Verhalten von Männern und Frauen mögen ob der Verquickung von Kultur und Biologie methodisch komplex sein (auch wenn es inzwischen schon interessante solche an eintägigen Kindern gibt), aber egal, was dabei herauskommt, an der Möglichkeit der Gleichwertigkeit aller Geschlechter ändern diese Experimente nichts: Die deskriptive Aussage über Ergebnis und Interpretation der Ergebnisse der biologischen/psychologischen Experimente ist für den/die/es empirischen Rationalisten komplett entkoppelt von der möglichen normativen *Entscheidung*, allen vielen Geschlechtern gleiche Rechte und Pflichten einzuräumen und auf ihre gleichmässigen Chancen zur Teilhabe an allen gesellschaftlichen Rollen hinzuarbeiten.

Es soll an dieser Stelle natürlich auch darauf hingewiesen werden, dass der empirische Rationalismus, eben weil er nicht totalitär ist, keine Anspruch auf eine Verknüpfung zwischen wissenschaftlicher Methode und gesellschaftlichen Normen und Zielen erhebt. Oder mit einfachen Worten: ein methodisch fähiger empirischer Rationalist zu sein macht einen Menschen nicht „gut“. Fälle wie die des Astronomen Geoff Marcy kommen vor, in denen kritisches wissenschaftliches Denken auf gesellschaftlich normativ inakzeptabes Verhalten trifft, welches einen fähigen Wissenschaftler insofern diskreditiert, als dass er als Professor und Leiter eine Arbeitsgruppe untragbar ist. Der Essentialist kann diese Unterscheidung nicht treffen: Gute Sozialwissenschaft ist seiner Interpretation nach wesenhaft gut, und daher im totalen Einklang mit seinen geselschaftlichen Zielen. Sozialwissenschaftler, die nicht seiner *politischen* Strömung angehören, sind automatisch autoritäre Feinde der Wahrheit.

Hier erkennt man dann auch schön die Verknüpfung des Essentialismus mit dem Totalitarismus: Alles, was z.B. der Gleichstellung der Geschlechter entgegen steht, *muss* aus Sicht des Essentialisten beseitigt werden: Also z.B. auch der Kapitalismus, denn da sind ja Männer an der Macht. Eine Feministin, die sich als bürgerliche Kapitalistin verordnet, kann es aufgrund der für den Essentialisten wesenhaften Verknüpfung des Kapitals mit dem Patriarchat nicht geben. Und hier sehe ich das grösste Potential des Essentialismus, unsere liberale Gesellschaft (uh, „liberal“, welch Schimpfwort!) wirklich ernsthaft zu beschädigen: Durch Beschädigung der politischen Debatte und durch Impfung totalitärer Argumentationsmuster. Deshalb halte ich es so wichtig, sich dagegen zu wehren. Aber ich z.B. darf das nicht, ich bin ein weißer Mann, ein empirischer Rationalist, ein Anhänger des aufgeklärten Liberalismus, verheiratet, mit Kindern, habe ein überdurchschnittliches Einkommen, bin ein Naturwissenschaftler, und (methodisch in experimenteller Kenntnis des Fehlens eines flexibleren funktionierenden Systems, nicht ideologisch) ein Anhänger der kapitalistischen sozialen Marktwirtschaft. Und ein vehementer Verfechter der Vereinigten Staaten von Europa auf Basis der EU. Jedes einzelne dieser Merkmale disqualifiziert meine Meinung aus der totalitären Sicht des Essentialisten, denn ich bin in *jeder* dieser Kategorien Profiteur der Strukturen, welche er/sie aufgrund ihrer Wesenhaftigkeit als Grund der Unterdrückung der Frau/der POC/Trans ausgemacht hat. Und im Zweifel bin ich offenbar noch dazu ein arroganter Arsch. Mit so jemand wie mir diskutiert man/frau/x nicht. Dass ich z.B. für die Abschaffung Deutschlands bin (natürlich anders, als die Sozialkonstruktivisten das wollen), dass ich 50% der Carearbeit leiste, dass ich dem Arbeitsort meiner Partnerin hinterhergezogen bin, aufgrund der Arbeit meiner Partnerin 10 Monate quasi alleinerziehender Vater war, dass ich nun wirklich nicht konservativ bin, dass ich leider seit langem aus gesellschaftlichen Gründen eine mehrheitlich wissenschaftsfeindliche Partei wähle, nun ja, das ist alles zweitrangig dabei, mich aufgrund meines Wesens, nicht aufgrund meiner Ziele und Handlungen, als Teil des Problems der Unterdrückung der Frau zu sehen. Es ist für die Essentialisten eben eine Frage der Definitionsmacht, zu definieren, also für sie zu werten, dass ich wesenshaft ein patriarchaler Materialist *bin*, dessen „Meinung“ hier nicht zählen darf.

Ganz zum Schluss noch eine Idee, nur als Einstieg in eine Diskussion: Falls ein/e LeserIn nun sagen möchte „aber die SozialkonstruktivistInnen sind gar nicht so“, dann schlage ich folgendes Experiment vor: Einfach die Comics von @erzaehlmirnix anschauen. Wenn Sie als LeserIn zu dem Schluss kommen, dass diese nicht Frauenhass transportieren, Rassistisch sind, etc, sondern inhaltliche Auseinandersetzungen mit eben diesen Themen darstellen (denen man zustimmen kann oder halt nicht), dann brauchen Sie sich nicht angesprochen und angegriffen fühlen. Gleichzeitig sollte dann aber auch klar sein, dass nicht geleugnet werden kann, dass es sehr viele Menschen gibt, die mit den hier dargestellten sozialkonstruktivistischen essentialistischen Argumenten versuchen, inhaltliche Debatten als Hass oder sogenannte *ismen zu brandmarken und damit zu unterbinden. Und das ist gefährlich für eine freie Gesellschaft.

Morgen geht es dann weiter mit ein paar weiteren Beispielen, warum die essentialistische Logik in der Praxis zwangsläufig in totalitären Tendenzen mündet.

Gastbeitrag: Vom Essentialismus zum Totalitarismus – Teil 1

Ich wohne mit einem Menschen zusammen, mit dem ich mich vortrefflich streiten kann. Was sehr gut ist, jemanden zu haben, mit dem man kontrovers diskutieren kann ohne sich dabei böse zu sein. Denn verschiedener Meinung zu sein, heißt noch lange nicht, dass man das gegenüber doof findet, in Gänze ablehnt und für komplett unmöglich hält. Leider gelingt das nicht mit allen Menschen und neben schlicht persönlichen Antipathien kann es noch einen anderen Grund für so tiefgreifende Missverständnisse geben, dass man mit den widerstreitenden Personen noch nicht einmal mehr die gleiche Straßenseite teilen möchte.
Mit dem Mensch, mit dem ich Tisch und Bett teile ist das zum Glück nicht so. In letzter Zeit haben wir sehr viel darüber diskutiert, wie es zu diesen tiefgreifenden Missverständnissen auf der intellektuellen Ebene kommen kann, die schlussendlich auch emotional eine Verständigung unmöglich machen. Und er hat dazu viel spannendes, teilweise auch kontroverses zu sagen. Aber er hat keinen Blog. Also gibt es hier eine Mini-Gastbeitragsserie. Weil es schade wäre, wenn diese Überlegungen in den Kommentaren versteckt bleiben würden. Oder gar nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken würden.

von @zusehrverkuerzt

Genügend kurze Abhandlungen über dieses Thema gibt es schon. Aber (meiner Meinung nach) nicht genug umfassende. Ich werde meine Gedanken grob in drei Posts aufteilen: Was ist empirischer Rationalismus? Was zeichnet Essentialismus und Sozialkonstruktivismus aus? Weshalb ist diese Strömung so anfällig für Totalitarismus?

Also los:

Was ist empirischer Rationalismus?

Immer mal wieder kommt es im Rahmen von gesellschaftlichem Engagement zu einem „Clash of civilizations“ zwischen liberal agierenden Personen und totalitären Essentialisten. Eine der letzten Debatten in der feministischen Netzszene drehte sich darum, ob man die Comics von @erzaehlmirnix verlinken sollte und ob man diese Comics überhaupt im feministischen Zusammenhang erwähnen darf. Diese Debatte liefert einige interessante ganz konkrete Beispiele dafür, die es ermöglichen, die philosophische Grundlage dieses Clashs of Civilizations zu beleuchten. Das ist nun an einigen Stellen schon auf lesenswerte Weise getan worden, z.B. hier und hier, wo schön beschrieben wird, wie die empirischen Rationalisten (auch wenn sie u.U. nicht wissen, dass sie sich in dieser Debatte zumindestens implizit als solche verhalten) auf die Sozialkonstruktivisten treffen. Und letztere zum Angriff über gehen. Ich möchte dem nach einer kleinen Einführung zwei Dinge hinzu fügen: Erstens, noch einmal die logischen Grundlagen des Sozialkonstruktivismus betrachten, um nicht nur zu verstehen, dass er so ist wie er ist, sondern warum. Denn das Grundproblem ist kein moralisches, sondern ein epistemologisches Problem des Essentialismus. Und zweitens, versuchen herauszuarbeiten, warum die Essentialisten in dieser Debatte den Totalitarismus offenbaren, welcher sie so unerträglich macht.

Ich denke, es geht hier um kein kleines Randproblem. Natürlich ist es im historischen Kontext schnurzegal, ob ein paar durchgeknallte Netzfeministinnen auf andere losgehen. Aber der Essentialismus ist eine dauernde Gefahr für die Freiheit des Individuums, er ist die Basis des Kollektivismus, und daher Grundlage der Ideologien der Tötungsmaschinen des 20. Jahrhunderts. Daher finde ich das ganze wichtig, und auch, weil ich es einfach peinlich finde, dass sowas in gewissen Kreisen auch noch akademisch gelehrt wird.

Als Anknüpfungspunkt möchte ich die Frage in den Kommentaren unter dem hier vor einigen Tagen erschienen Post über Erkenntnisgewinn verwenden, in dem die Frage auftauchte, warum in den Naturwissenschaften Pluto einfach so vom Planet zum Zwergplanet ‚wird‘. Das kann man so verstehen, dass das ja dann ein tolles Beispiel sei, dass in den Naturwissenschaften ‚Wissen‘ ‚ausgehandelt‘ wird. Denn darum ging es ja u.a. in dem Post.

Nehmen wir dies nun als einführendes Beispiel für eine der konstruktivistischen Position entsprechende Aussage. In obigem Post lesen wir ja „Wissen [] als immerwährenden Prozess von Aushandlungen zu verstehen.“ Diese Leute verstehen “Pluto ist jetzt kein Planet mehr, sondern ein Zwergplanet” also als Aussage über Pluto selbst. Denn nur solche Definitionen und Kategorisierungen sind im freien Sinne ‚aushandelbar‘. Dabei ist es eine Aussage über die Kategorisierung, und nicht über Pluto. Ich denke, WissenschaftlerInnen wissen in Normalfall sehr gut, was sie mit so einer Aussage meinen:

„Pluto ist ein Zwergplanet” beinhaltet explizit und implizit:
1.) (implizit) Das Objekt mit Helligkeit xx und Umlaufbahn yy nenne ich Pluto -> Definition
2.) (explizit) Pluto wird Kategorisiert als Zwergplanet
3.) (darüber hinaus) Ich nenne alle Objekte “Zwergplanet”, die folgende beobachtbare
Eigenschaften erfüllen:
* kleiner als …
* typischerweise stark elliptische Umlaufbahn …

Man sieht also, dass die neue Kategorisierung unabhängig von unserem Wissen über Theorien über Pluto ist. Er ist in der nicht mit absoluter Genauigkeit bekannten Realität immer noch gleich gross (abgesehen davon, dass er messbar seine Atmosphäre verliert), gleich schwer, hat die gleiche Umlaufbahn, den gleichen Mond. Unser Wissen hat sich im Laufe der Zeit präzisiert (siehe z.B. seine Atmosphäre), aber nicht revolutioniert/neu paradigmiert/was auch immer grade Mode ist. Was sich geändert hat, ist, dass immer mehr Objekte entdeckt wurden, die wir Zwergplaneten nennen, und dann bemerkt wurde, dass die beobachteten Eigenschaften von Pluto näher an denen der anderen Zwergplaneten sind als an den 8 anderen Planeten. Daher die reine Umkategorisierung.

Hier bietet sich ein kleiner Einschub an: Was meint die Naturwissenschaft mit ‚Wissen über Pluto‘? Damit ist dreierlei gemeint:

  1. Die formale (typischerweise mathematische) Formulierung der einzelnen Messergebnisse (Basissätze), zusammen mit der Messung der Unsicherheit dieser Messungen,
  2. die synthetische Theorie der Messapparatur, und schliesslich
  3. die synthetische Theorie über die Natur: die Zusammensetzung, Entstehung, Flugbahn, etc von Pluto, dazu die Theorie der Gravitation (die allgemeine Relativitätstheorie in diesem Fall, oder auch alternative wissenschaftliche Theorien, so obskur sie sein mögen, solange sie falsifizierbar sind (wie sogar MOND)).

Ob das beschriebene Objekt ein Planet „ist“ oder ein „Zwergplanet“ spielt dabei keine Rolle. Das bleibt eine Kategorisierung. Wir sehen an diesem Beispiel, dass 1.) bis 3.) nicht aushandelbar sind. Die einzelnen Beobachtungen der Position Plutos können nicht verhandelt werden, die Unsicherheiten der Messapparaturen können gemessen werden und dienen zum Test der Theorie der Messapparatur, so dass auch diese Theorie nicht gesellschaftlich beeinflussbar ist, und die allgemeine Relativitätstheorie, nun ja, da hat schonmal jemand aus politischen Gründen versucht, sie auszumerzen, wir haben gesehen, wozu das führte, unter anderem.

In dem hier beschriebenen Zusammenhang wird desweiteren nun ‚deskriptiv‘ als Bezeichnung all dieser Teile der Aussagen der Naturwissenschaft benutzt, egal ob Basissatz oder synthetische falsifizierbare Theorie der Natur. Denn es ist nicht sehr hilfreich (wenn auch nicht logisch ‚falsch‘), zu sagen, der Apfel muss halt nach unten fallen (die synthetischen Sätze also als normativ zu bezeichnen), und daran hält er sich halt. Dies ist mir wichtig, denn 1.) „normativ“ derart anders zu definieren führt sehr leicht zu einem Fehlschluss ähnlich dem essentialistischen: Dass die erfolgreichen synthetischen naturwissenschaftlichen Sätze eben eine Aussage darüber machen, wie etwas *sein* soll. Also ganz konkret: Wenn wir naturwissenschaftlich feststellen, dass in einer bronzezeitlichen Gesellschaft bestimmte Arbeitsteilungen vorhanden gewesen sein dürften (also aus den vorhandenen Spuren der Vergangenheit schliessen, dass eine nicht-falsifizierte synthetische Beschreibung der Befundlage die ist, dass eine Arbeitsteilung vorlag), dann folgt daraus eben *keine* Aussage im strengeren normativen Sinn. Es folgt daraus also gerade nicht, wie wir unsere Regeln und Ziele für unsere in der Tat konstruierten sozialen Bezüge setzen sollten. Dieser Fehlschluss würde durch die Nutzung von ’normativ‘ für die Aussage ‚Bronzezeitliche Gesellschaften waren arbeitsteilig‘ aber zumindestens leichter, wenn nicht gar wahrscheinlicher. Und 2.) ist es falsch, anzunehmen, dass der Apfel, wenn er fällt, einem Naturgesetz folgt. Denn die Naturgesetze sind ja gar nicht wahr. Sie sind erfolgreich getestete falsifizierbare Beschreibungen der Natur. Daher wird hier ‚deskriptiv‘ sowohl für Basissätze als auch für synthtische falsifizierbare Aussagen verwendet, und ’normativ‘ nur für Aussagen über nicht-falfizierbare Aussagen über Regeln (z.B. methodische Festlegungen in der naturwissenschaftlichen Praxis) oder Ziele (z.B. gesellschaftliche Ziele, z.B. die Freiheit des Individuums und das konkurrierende Ziel der Freiheit vor Furcht und Bedrohung).

‚Wissen‘ im naturwissenschaftlichen Sinn ist also die Kenntnis von erfolgreichen (entweder noch nicht falsifizierten oder falsifizierten, aber hinreichend guten für einen bestimmten Zweck) falsifizierbaren Beschreibungen der messbaren Vorgänge, sowie die dazu herangezogenen Basisätze, welche jede einzelne Messung beschreiben. „Wissen“ beinhaltet keine Definitionen und Kategorisierungen, diese sind nur Hilfsgrössen, welche immer frei durch den Inhalt der Definition ersetzt werden können. „Wissen“ beinhaltet auch nur eine Aussage über objektive Annäherung an „die Wahrheit“, und nicht über die „Wahrheit/Realität/Noumenon“ selbst. Denn das naturwissenschaftliche Programm ist ein methodisches, kein metaphysisches oder ontologisches, es macht keine Aussage über die Realität an sich, sondern nur über die beobachtbaren Phänomene, und seine Methodik ist nicht direkt abhängig von der Natur der Phänomene.

Hier könnte nun ein sprachanalytischer Einschub erfolgen, der erklärt, warum die analystische Philosophie Sprache nicht richtig verstanden hat, denn sonst könnte man sich fragen, warum man am Ende nicht doch von Definitionen abhängt. Denn wie kann man Worte kennen, ohne ihre Bedeutung zu ‚definieren‘? In der Realität ist der Ausweg ganz einfach: Das erlernen von Sprache ist ein Experiment, das fast genauso abläuft, wie die naturwissenschaftliche Methode, welche oben beschrieben ist. Wir lernen Worte kennen und nutzen sie experimentell (in Interaktionen) und schliessen durch gelungene und missglückte Anwendungen des Wortes Bedeutungen aus (also falsifizieren sie), welche im Widerspruch zur Bedeutung für unsere Umgebung stehen. So verbessern wir die Konsistenz der Bedeutung der Wörter für uns alle gegenseitig, erreichen aber nie eine perfekte Deckung, wie wir an immer wiederkehrenden Missverständnissen sehen können. Genauso, wie die Naturwissenschaft objektiv besseres Wissen erarbeitet, aber kein perfektes. Auch hier beinhalten die Bedeutungen der Worte kein Wissen über die Natur oder soziale Gefüge, dieses ergibt sich erst in erfolgreichen synthetischen Aussagen, welche Bezüge zwischen der Bedeutung einzelner Wörter behaupten. Ende des empirischen „sprachanalytischen“ Einschubs…

Es ist nun klar, dass weder in Definition noch in Kategorisierung die geringste faktische Aussage liegt. Es sind reine Hilfsgrößen, hoffentlich nützlich. Und es ist eben nützlicher, Pluto zusammen mit ähnlichen Objekten zu kategorisieren, als mit verschiedeneren Objekten.

Aber auch in ’nützlich’ steckt natürlich keine Wertung…

Warum ist das so interessant in dieser Debatte? Erstens natürlich, weil so verständlich wird, warum die Essentialsten eine Umkategorisierung oder Neudefinition als “Aushandeln von Wissen” begreifen. Denn sie verstehen ja nicht, dass in der aushandelbaren (und intern in der Community und der Öffentlichkeit heiss diskutierten) Neudefinition gar kein Wissen über die Natur steckt, sondern reine Kategorisierung. Weil die Essentialsten schon diesen Punkt nicht verstehen, können sie die empirisch-rationale wissenschaftliche Methode nicht verstehen. Weiter geht es morgen mit der Beschreibung von Essentialismus und Sozialkonstruktivismus.

Download Schnittmuster aus A4-Kacheln ausplotten

Wie ich schon vor 2 Jahren schrieb, mag ich diese Download Schnittmuster nicht besonders. Und auch wenn sie nicht mit DRM kommen, nervt das zusammenkleben noch immer. Ich bin da auch nicht alleine, viele andere Nähnerds fluchen darüber.

Einige Indie-Schnittmusterlabel bieten mittlerweile neben in A4 oder Lettersize gekachelte Schnittmuster auch eine Datei an, die das Schnittmuster im Ganzen enthält, welches man dann im Copyshop ausplotten lassen kann. Meike hat das vorgestern ausprobiert und ist ganz entzückt. Dabei kam dann Lucy und auch andere Komentatorinnen auf die Frage, wie man denn die Schnittmuster, die es aber nur gekachelt gibt, digital wieder zusammenfügen könne, um das Schnittmuster dann im Ganzen plotten lassen zu können.

Google war da leider nicht wirklich hilfreich, in einem Kommentar auf einem Blog wurde vorgeschlagen, dafür das Programm Inkscape zu benutzen. Inkscape ist eine freie, plattformunabhängige Software zur Bearbeitung und Erstellung zweidimensionaler Vektorgrafiken und mann kann es für GNU/Linux, Mac OS X und Windows kostenlos von der Webseite runterladen. Leider haben Grafikprogramme die unschöne Eigenschaft, dass sie meist eine gewisse Einarbeitung brauchen, bis man sie benutzen kann. Trotzdem probierte ich es aus und nach anfänglichem „Verdammt, das wird Tage dauern, bis ich gecheckt hab, wie das geht“ hatte ich es dann schneller raus als gedacht. Ich hab noch immer keine Ahnung, wie Inkscape funktioniert, aber ich kann Schnittmuster damit zusammenkleben, mehr wollte ich ja gar nicht. Man kann damit auch Schnittmuster zeichnen und ein Din A4 große Kacheln zerlegen, dafür gibt es unzählige Tutorials, aber das würde jetzt hier zu weit führen. Nur für den Fall, dass eine mal ein Schnittmuster digitalisieren möchte, es muss nicht Adobe Illustrator sein, Inkscape kann das auch.

Wie macht man das also jetzt, wenn man ein Schnittmuster in vielen A4 Blättern hat? Ich erkläre hier, wie ich es gemacht hab, es gibt sicher noch andere, vielleicht sogar einfachere Wege, die dürft ihr gerne in die Kommentare schreiben. Ich bin totale Inkscape-Anfängerin. Da mein Betriebssystem auf Englisch eingestellt ist, gibt es hier die Erklärung leider mit den englischen Bezeichnungen…

Edit 17.10.2015: Die meisten gekachelten Schnittmuster haben einen Rand, da zum einen der Drucker nicht bis an die Kante drucken kann und man ja auch ein bisschen Überlappung zum Kleben. Diesen Rand muss man loswerden. Weiter unten wird eine komplizierte Methode innerhalb von Inkscape beschrieben. Immi machte mich auf eine viel einfachere Methode aufmerksam. Dafür braucht man ein Programm mit dem man pdfs bearbeiten kann. Sie schlug pdf24 Creator vor. Das gibt es aber nicht für GNU/Linux, weshalb ich nach Alternativen schaute und auf pdf Mod stieß. Ich beschreibe es hier also für pdf Mod, aber das scheint sehr ähnlich wie bei pdf24 zu funktionieren. Mrs Go erklärt es für pdf24 (diese Dynamik, die sich hier gerade in der Nähnerdcommunity entwickelt, toll!!!) hat ihr Tutorial leider unkenntlich machen müssen, weil es Menschen gibt, die nicht so auf Nähnerdflausch stehen. Schade. Man öffnet mit PDF Mod die pdf Datei des Schnittmusters, wählt alle Seiten aus, die das Schnittmuster enthalten und klickt auf Edit -> Export xx ImagesScreenshot - 17.10.2015 - 16:17:19Und schon hat man einen Ordner mit jpg s ohne Rand, die man dann in Inkscape importieren und zusammensetzen kann.

Dafür  öffnet man ein neues Inkscape Dokument. In den Dokumenteigenschaften ändert man die Seitengröße auf A0. Screenshot - 16.10.2015 - 16:12:57Außerdem sollte man sich vorher Gedanken über die Ausrichtung machen. Ich hatte es zuerst auf Hochformat eingestellt, dabei hätte ich Querformat gebraucht. Man kann es aber auch noch später ändern. Bei „General“ sollte man außerdem noch die Default units auf mm umstellen, damit man später das Skalierungsquadrat ausmessen und wieder auf die richtige Größe bringen kann.Screenshot - 17.10.2015 - 21:39:30Anschließend sollte man die Ansicht auf 100% einstellen, das macht das zusammenkleben deutlich einfacher. Screenshot - 16.10.2015 - 16:22:25Dann scrollt man mit den Balken unten und rechts in die obere linke Ecke des A0 großen Rechtecks. Das sollte dann etwa so aussehen Screenshot - 16.10.2015 - 16:27:43Nun beginnt man damit, die einzelnen Seiten des Schnittmusters zu importieren. Ich habe mir hier mal den kostenlosen T-Shirt-Schnitt Plantain von Deer and Doe ausgesucht. Dafür geht man auch File -> Import Screenshot - 16.10.2015 - 16:16:42und wählt im erscheinenden Dialogfenster die Datei aus, die man eben in pdf Mod erzeugt hat importieren möchte. Da diese Datei mehrere Seiten enthält, erscheint ein weiterer Dialog, mit dem man die zu improtierende Seite auswähltScreenshot - 16.10.2015 - 16:31:57Bei vielen ebook-Schnittmustern ist die Anleitung und das Schnittmuster in einer Datei, da muss man sich dann ein bisschen durch die Seiten klicken, bis man bei der ersten Seite des eigentlichen Schnittmusters angekommen ist. Aber es gibt eine Seitenvorschau im Dialogfenster, so dass das ziemlich einfach ist. Auf okay drücken. Im sich öffnenden Dialog „embeded“ auswählen.Screenshot - 17.10.2015 - 22:00:54Die importierte Seite wird in der Mitte des Bildschirms platziert, aber sie soll natürlich nach oben links in die Ecke. Jetzt kommt ein Schritt, der mir etwas Kopfzerbrechen bereitet hat, weil er erst nicht ging und dann plötzlich doch, ohne dass ich sagen könnte, was ich geändert hab:  Man fährt mit der Maus über die Seite, mit einem rechten Mausklick fasst man die Seite an, mit gedrückter Maustaste verschiebt man die Seite dorthin, wo man sie haben möchteScreenshot - 16.10.2015 - 16:38:22Weiter geht es mit der nächsten Seite. So wie oben beschrieben importiert man die nächste Seite. Jetzt wird es aber etwas tricky: In diesem Schnittmuster sind Ränder eingefügt, die man auf einer Seite wegschneidet beim Zusammenkleben. Genau das muss auch beim digitalen Zusammenfügen gemacht werden. Ich musste auf meinem Laptopmonitor den Zoom etwas verkleinern (unten rechts ist eine %-Anzeige, die hab ich auf 71% reduziert), damit die ganze A4 Seite sichtbar war. Wenn man also die neu importierte Seite komplett sieht, wählt man links in der Werkzeugleiste das Rechteckwerkzeug ausScreenshot - 16.10.2015 - 17:06:10und dann zieht man einen Rahmen auf, der genauso groß ist wie der bedruckte Bereich des Blattes. Screenshot - 16.10.2015 - 17:17:08Anschließend wechselt man links in der Werkzeugleiste wieder auf den Pfeil (Select and transform objects), mit gedrückter Shift Taste wählt man dann sowohl das blaue Rechteck als auch das ganze eingefügte Blatt aus (es sollten dann sowohl um das Blatt als auch im das Rechteck so eine gestrichelte Linie sichtbar sein) und dann schneidet man mit Object -> Clip -> Set den Rahmen ab Screenshot - 16.10.2015 - 17:21:21Dann fasst man mit gehaltener rechter Maustaste die ausgeschnittene Seite an und schiebt sie an die erste Seite ran. Je nach Bildschirmgröße und eingestellten Vergrößerung wird es schwierig, die Passzeichen ganz genau zu treffen. Also vergrößert man den Zoom wieder, ich hab es auf 250 % vergrößert. Die Feinausrichtung macht man dann mit den Pfeiltasten der Tastatur. Mit Alt+Pfeiltaste verschiebt man das Blatt pixelweise und kann die Passzeichen exakt aneinanderlegen.Screenshot - 16.10.2015 - 19:18:15So macht man das dann für alle weiteren Blätter, bis man alles zusammengesetzt hat. Dann markiert man alle Blätter, indem man mit Ctrl + rechter Maustaste jedes Blatt anklickt. Dann gruppiert man die Blätter über Objects -> GroupScreenshot - 17.10.2015 - 22:28:12damit sie jetzt schön so zusammenbleiben wie sie sind (für sachdienliche Hinweise, wie das mit dem Snap to Object funktionieren könnte wäre ich sehr dankbar, das würde den Workflow nämlich nochmal enorm beschleunigen)

Und jetzt wird es nochmal ein bisschen tricky. Durch das Umwandeln des pdf’s in einzelne jpg’s ist die Skalierung verloren gegangen. Man muss also das Skalierungsquadrat nochmal ausmessen um zu schauen, wie groß das denn nun ist. Ich hab keine ganz aktuelle Inkscape-Version, in der es ein Messwerkzeug gibt. Aber ich glaube auch nicht, dass man das wirklich benutzen kann, weil das Skalierungsquadrat nicht als eigenes Objekt in der Datei erscheint sondern als Teil des importierten Bildes. Deshalb muss man sich ein wenig behelfen. Man wählt links in der Werkzeugleiste den Stift aus, klickt mit dem Stift auf eine Ecke des Quadrats. dann lässt man die Maustaste wieder los. Jetzt muss man unten rechts in der Ecke schauen, wo sich der gesetzte Punkt befindet. In meinem Fall war das bei 50,14 mm (wichtig ist, dass man in den Document Properties die Default Units auf mm umgestellt hat!). Dann zieht man ohne den Mauszeiger gedrückt zu haben von dem Punkt aus mit der Maus entlang der waagerechten Kante des Skalierungsquadrats zum anderen Ende und merkt sich nun den Wert, wo sich der Stift befindet (118,89mm). Mit esc kommt man wieder aus dem Stiftmodus raus und man hat auch keine Linie gemalt.Screenshot - 17.10.2015 - 21:35:31Jetzt muss man ein bisschen rechnen: Die Linie ist also 118,89mm – 50,14 mm = 68,75 mm lang. Sie soll aber 50 mm lang sein. Das Bild ist also zu groß. Man muss es nochmal skalieren. Dafür muss man eine Dreisatzrechnung machen.

68,75 mm  ≙ 100%

÷68,75

1 mm         ≙ 1,45%

x 50

50 mm      ≙ 72,72%

In meinem Fall muss das ganze Objekt von 100% auf 72,72% verkleinert werden. Das ist aber von Fall zu Fall verschieden. Man muss wissen, wie lang das Skalierungsquadrat sein muss (meist 50 oder 100 mm) und man muss messen wie lang es wirklich ist.

Man wechselt links in der Werkzeugleiste wieder auf den Pfeil ganz oben. Um das Objekt jetz wieder auf die richtige Größe zu bringen wählt man das gruppierte Objekt aus, über Object -> TransformScreenshot - 17.10.2015 - 21:36:40gelangt man in einen Dialog, in dem man auf den zweiten Reiter scale gehen muss. Dort setzt man das Häkchen bei Scale proportionally und trägt den oben ausgerechneten Wert einScreenshot - 17.10.2015 - 21:37:44und drückt auf Apply. Anschließend kontrolliert man mit dem Stiftwerkzeug nochmal die Länge des Skalierungsquadrats.

Das Ganze speichert man dann mit Save as als pdf abScreenshot - 16.10.2015 - 20:24:52 Screenshot - 16.10.2015 - 20:26:15und kann das dann wie bei Meike beschrieben plotten lassen.

Die perfekte Nähnerd-Serie

Ich bin ein großer Fan von „Fernseh“-Serien, in den letzten Jahren hat sich die Qualität dieses Genre extrem verbessert. Was ich an Serien so mag ist, dass es einfach viel mehr Zeit hat, die einzelnen Charaktere zu entwickeln und es werden viel größere und komplexere Geschichten erzählt als in einem Film. Und dank „Fernsehn on demand“ wie z.B. Netflix oder DVD kann man die Serien in mehr oder weniger großen Häppchen schauen. Entweder 10 Folgen hintereinander weg, wenn man mal krank zu Hause auf dem Sofa rumliegt (so wie jetzt gerade) oder jeden Abend vorm zu Bett gehen eine Folge, so 40 min gehen ja immer.

Dank MIZOAL wurde ich auf eine wirklich wirklich tolle Serie aufmerksam: The Bletchley Circle.

Darin geht es um einen Kreis von in London lebenden Frauen, die im 2. Weltkrieg in Bletchley Park als Kryptoanalytikerinnen gearbeitet haben. Die Serie spielt allerdings 1952/53. Alle sind ins zivile Leben zurückgekehrt und dürfen auch nicht über ihre Zeit in Bletchley Park reden. Eine der Frauen erkennt ein Muster in einer Mordserie und wendet sich an ihre ehemaligen Kolleginnen, nachdem die Polizei ihr nicht glaubt. Sie klären den Fall auf und es folgen weitere Rätsel, die sie knacken.

Den Bechdel-Test besteht diese Serie mit Bravour. Männer spielen in dieser Serie eine absolute Nebenrolle. Diese Frauen sind intelligent, unabhängig und mutig. Und müssen damit irgendwie klar kommen in einer Gesellschaft, in der solche Frauen keinen Platz haben.

Zu allem Überfluss hat diese Serie ganz offensichtlich eine sehr sehr fähige Kostümbildnerin. Was für einen Nähnerd wie mich natürlich das Tüpfelchen auf dem i ist. Ich gebe zu, ich habe eine Schwäche für Vintage-Kleider. Bis vor  ein paar Jahren waren es vor allem Sachen aus den 1920er bis 1940er Jahren, aber seit ich erkannt habe, dass für mich der New Look doch auch sehr vorteilhaft ist, schaue ich bei den 1950er auch sehr gerne hin, um neue Inspirationen zu bekommen. Und vor allem Susans weinroter Mantel hat es mir sehr sehr angetan. Auch wenn der Film und Serien Sew Along längst vorbei ist, hätte ich jetzt ein Projekt, was da sehr sehr gut reinpassen würde. Wenn ich mal einen Wintermantel nähe, dann den.

Und was mir persönlich am allerbesten gefällt: Diese unterschwellig spürbare aber total unproblematische homoerotische Vergangenheit von Susan und Millie. ❤

Also, absolute Guck-Empfehlung!

Absurde Symmetrien

Gestern morgen kam mir ein Artikel von Karl Popper in der Zeit von 1971 unter. Darin erklärt Popper, warum es wissenschaftlich unredlich sei

„wenn die Intellektuellen es versuchen, sich ihren Mitmenschen gegenüber als große Propheten aufzuspielen und sie mit orakelnden Philosophien zu beeindrucken.“

Er bezeichnet sich selbst als Antimarxisten und Liberalen. Und findet klare Worte über Neodialektikerinnen:

Das Kochrezept ist: Tautologien und Trivialitäten gewürzt mit paradoxem Unsinn. Ein anderes Kochrezept ist: Schreibe schwer verständlichen Schwulst und füge von Zeit zu Zeit Trivialititen hinzu. Das schmeckt dem Leser, der geschmeichelt ist, in einem so „tiefen“ Buch Gedanken zu finden, die er schon selbst einmal gedacht hat. (Wie heute jeder sehen kann – des Kaisers neue Kleider machen Mode!)

Da war doch was. Vor kurzem machte ein Statement der Gender Studies Fachschaft der HU Berlin die Runde, das nach genau diesem Kochrezept geschrieben zu sein schien. Das war natürlich ein gefundenes Fressen für die Kritikerinnen dieses Forschungsgebietes. Der Text war eine Aneinanderreihung von sinnlosen Phrasen verpackt in unlesbare grammatikalische und semantische Konstrukte. Inhaltlich wertlos, aber dafür umso lustiger in seinen Verrenkungen, die er machte, um irgendwie schlau zu klingen. Und genau das wurde hämisch und belustigt kommentiert. Was wiederum Menschen auf den Plan rief, die behaupteten, die Kritikerinnen seien einfach nur zu ungebildet die Fachsprache dieser Forschungsrichtung zu verstehen. Habermas und Adorno lassen grüßen.

Popper sagt weiter:

Obzwar ich fast immer an scharf bestimmten wissenschaftlichen Problemen arbeite, so geht durch alle meine Arbeit ein roter Faden: für kritische Argumente – gegen leere Worte und gegen die intellektuelle Unbescheidenheit und Anmaßung – gegen den Verrat der Intellektuellen, wie es Julien Benda nannte. Ich bin der Überzeugung, daß wir – die Intellektuellen – fast an allem Elend schuld sind, weil wir zu wenig für die intellektuelle Redlichkeit kämpfen. (Am Ende wird deshalb wohl der sturste Anti-Intellektualismus den Sieg davontragen.) In der „Open Society“ sage ich das in hundert verschiedenen Angriffen auf die falschen Propheten, und ich nehme kein Blatt vor den Mund.

„Gegen den Verrat der Intellektuellen“ da machte es bei mir plötzlich klick.  Hatte ich doch vor kurzem erst einen Artikel einer Basler Geschlechterforscherin in der Wochenzeitung gelesen, der Kritkerinnen der Genderstudies pauschal „Antiintellektualismus“ vorwarf. Es wurden wild Rechtskonservative, christliche Fundamentalistinnen, Liberale und Naturwissenschaftlerinnen in einen Topf geworfen, weil diese es wagen, gewisse Strömungen der Genderstudies zu kritisieren. Was mir dabei am allermeisten negativ aufstieß: Es wurde keinerlei Unterschied zwischen den verschiedenen Zielsetzungen der Kritik gemacht. Es wurde pauschal nach dem Prinzip „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“ verfahren und jegliche Kritik mit „Antiintellektualismus“ gekennzeichnet.

Wer mich ein bisschen kennt, weiß, dass ich ein sehr ambivalentes Verhältnis zur Geschlechterforschung habe. Ich halte es für extrem wichtig, dass es z.B. Forschung dazu gibt, wie die Geschlechter in der Gesetzgebung und Rechtssprechung diskriminiert werden. Dass erforscht wird, wie sich das Verhältnis der Geschlechter, der unterschiedliche Zugang zu Bildung für die Geschlechter, unterschiedliche Performance im Bildungssystem, etc auf eine Gesellschaft auswirkt. Ich habe mittlerweile allerdings auch einen sehr sensiblen Bullshit-Detektor in dem Bereich entwickelt und der schlug sehr weit aus als ich folgendes las:

Darin spiegelt sich eine zunehmend antiintellektuelle, ja autoritäre Geisteshaltung, die sich weigert, Wissen und damit auch Gesellschaft als immerwährenden Prozess von Aushandlungen zu verstehen. Geworben wird für positivistische Ideale und eine Alleingültigkeit bestimmter naturwissenschaftlicher Methoden. Nach diesem Verständnis ist Wissenschaft nur dann richtig, wenn sie universell gültige Aussagen trifft, zum Beispiel darüber, wie Männer und Frauen wirklich sind.

Schon seit langem hege ich den Verdacht, dass es zwischen bestimmten Strömungen der Gesellschafts- und Geisteswissenschaften auf der einen Seite und den Naturwissenschaften auf der anderen Seite ein unüberbrückbares Verständnisproblem vorliegt. Und da stand es plötzlich in einer Klarheit, die mir aber erst so richtig bewusst wurde, als ich den 44 Jahre alten Artikel von Karl Popper nochmal las. Da hat eine ganze Denkschule auch 50 Jahre nach dem Positivismusstreit noch immer nicht verstanden, wie naturwissenschaftliche Erkenntnis funktioniert. Wissen wird dort als immerwährender Prozess von Aushandlungen verstanden. Nein, Wissen ist in der naturwissenschaftlicher Erkenntnistheorie das Ergebnis der Konfrontation von Theorien und ihren Vorhersagen mit Experimenten. Danach wissen wir, welche Theorien falsch sind, kennen aber noch immer nicht die Wahrheit. Ausgehandelt wird da nichts. Aushandeln kann man z.B. einen Kompromiss zwischen konträren Zielsetzungen in der Politik. Da diese Denkschule ihren Auftrag also scheinbar im Aushandeln von Positionen begreift, betreibt sie also eigentlich Gesellschaftspolitik und keine Wissenschaft. Deshalb müssen dann Strohmänner aufgebaut werden.

Dabei setzt sich auch in den Naturwissenschaften zunehmend die Erkenntnis durch, dass sich nicht allein anhand biologischer Dispositionen begründen lässt, warum wir auf welche Weise leben. So legt die Neurologie etwa den Fokus vermehrt auf die Interaktion von Natur und Umwelt und zeigt zum Beispiel, dass es selbst bei einer ausgeprägten Sprachbegabung immer darauf ankommt, auf welche sozialen und kulturellen Einflüsse diese Disposition trifft. Dasselbe gilt für Hormone oder Gene: Eine Disposition allein vermag kaum etwas darüber auszusagen, wie ein Menschenleben verläuft oder verlaufen soll.

Soso, es setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch… ähm, ja, ich sagte es bereits, an der Stelle war die Debatte vor 50 Jahren bereits. Es wird den Naturwissenschaften unterstellt, sie mache aus einer deskriptiven Analyse eine normative Aussage und das sei unredlich. Dem letzten Halbsatz stimme ich vollunfänglich zu. Nur macht die Naturwissenschaft keine normativen Aussagen. Dieser Schluss wird ihr lediglich von einer Denkschule unterstellt, die schlicht nicht versteht, wie naturwissenschaftliche Erkenntnis funktioniert.

Und deshalb finde ich es schon sehr belustigend, wenn jemand „Antiintellektualismus“ schreit, sich dabei gegen Naturwissenschaflterinnen und Liberale wendet, den kritischen Rationalismus als Positivismus verkennt und gleichzeitig klar wird, dass sie keinen blassen Schimmer hat, was z.B. Karl Popper (oder jede andere moderne naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie der letzten 50 Jahren) eigentlich gesagt hat.

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Wenn ich mal Zeit und Muße hab, schreibe ich nochmal ein bisschen was dazu, wie naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie funktioniert, was es mit Definitionen auf sich hat und was der Unterschied zwischen normativ und deskriptiv ist und warum man das nicht durcheinanderbringen sollte. Zur Einstimmung empfehle ich Poppers Übersetzungen von Adornos und Habermas Geschwurbel am Ende des oben verlinkten Popper-Textes

Tagebuchbloggen 05.10.2015

Es ist der 05. und Frau Brüllen will wieder wissen, was wir eigentlich den ganzen Tag machen.

6:20 Uhr der Wecker klingelt. Da Herbstferien (hier wohnt ja jetzt ein Schulkind, was bedeutet, dass wir morgens um 7:35 Uhr die Fahrräder aus dem Keller holen müssen) sind, muss der große kleine Mensch nicht ganz so früh los, ich kann also noch bis 6:50 Uhr mit der Bettdecke kuscheln. Dann aufstehen, den kleinen kleinen Menschen anziehen, mich selbst anziehen, frühstücken. Beim Twitter überfliegen auf einen Text von Karl Popper von 1971 zum Positivismusstreit stolpern. Immer wieder faszinierend, dass es Philosophen gab/gibt, die tatsächlich so schreiben, dass ich das sofort verstehe und nicht jeden Satz dreimal lesen muss um herauszufinden, dass da bullshit steht (okay, ich geb zu, genau das zu entlarven war auch Sinn und Zweck des Popper’schen Artikels).

7:45 Uhr Der Liebste und der kleine kleine Mensch verlassen das Haus, der große kleine Mensch und ich sitzen noch 10 min zusammen auf dem Sofa und unterhalten uns, bis wir um 7:55 Uhr auch das Haus verlassen. Diese Woche wird er von der OGS in der Schule betreut. Er freute sich heute morgen schon darauf, dass diese Woche die Schule ein Kindergarten ist. Aber er versicherte mir auch, dass er gerne zur Schule geht. Puh!

8:10 Uhr im Büro. E-Mails lesen, den Popper-Artikel zuende lesen. Dabei kommt mir wieder ein Artikel über Gender Studies in den Sinn, der vor 2 Wochen erschien. Beim Suchen stell ich mich irgendwie ungeschickt an, aber auf meine Twitterfollower ist Verlass.

9:00 Uhr Gruppenbesprechung. Ich mag das, dass die jetzt am Montag morgen ist, das ermöglicht irgendwie gefühlsmäßig eine sinnvolle Wochenplanung innerhalb der Gruppe und ist nicht so eine reine Infoveranstaltung, wie sie es Mittwochs immer war.

11:30 Uhr Mittagessen

12:30 Uhr Zurück vom Mittagessen such ich erstmal ein paar Bibelzitate aus dem neuen Testament für einen Kollegen raus. Das ist nämlich gar nicht so kuschelig und gütig, wie viele meinen. Wen es interessiert, findet hier eine kleine (220 Zitate) Zusammenstellung. Ist auch ganz hilfreich in Diskussionen zum Thema „Islamisierung“.

Den Nachmittag verbringe ich mit Erstellen von Diagrammen, Datenblättern, Dokumentation.

17:40 Uhr verlasse ich das Büro. Seit der große kleine Mensch in die Schule geht, haben wir eine Kinderfrau, die die kleinen Menschen abholt und mit ihnen nach Hause geht. So hab ich nachmittags ein bisschen mehr Luft. Die OGS endet nämlich um 16:30 Uhr, was für Vollzeit arbeitende Menschen meist bedeutet, dass sie mit dieser Betreuungslösung alleine nicht auskommen. Aber wir haben mit der Kinderfrau einen absoluten Volltreffer gelandet. Die kleinen Menschen mögen sie, sie räumt auch noch ein bisschen die Wohnung auf und wenn ich nach Hause komme, habe ich wirklich Feierabend und kann mit den kleinen Menschen die Zeit genießen. Zuallererst wollen sie dann aber immer erstmal Fernseh schauen, was im Moment eine Folge „Zoes Zauberschrank“ und 10 min BBC-Doku „Unbekanntes Afrika“ bedeutet. Danach haben wir die Reste vom Wochenendkuchen gegessen (ich bin nicht so nett wie Frau Brüllen und versorg die Kollegen mit Kuchenresten).

19:00 Uhr der Liebste kommt nach Hause und hat dem großen kleinen Mensch einen „Calvin und Hobbes“ Comic mitgebracht. Noch klappt das mit dem selberlesen natürlich noch nicht und so machte ich für „Calvin und Hobbes“ dann doch mal eine Ausnahme von meinem Grundsatz „Ich lese keine Comics vor“ und las dem großen kleinen Mensch ein paar Strips vor.

19:20 Uhr der kleine kleine Mensch ist leicht angeschlagen und möchte ins Bett. Da der Liebste heute dran ist, kann ich es mir auf dem Sofa bequem machen. Und dann kam ich dem Wunsch von Moepern nach und schrieb doch noch was zu diesen absurd anmutenden Symmetrien zwischen den Artikeln von Popper und Schutzbach auf. Das artete dann mal wieder in ganz grundsätzliche Überlegungen zur Erkenntnistheorie und Anverwandtem aus, was ich dann aber in den Entwürfeordner verschob. Auf die „Absurden Symmetrien“ dürft ihr euch aber morgen freuen.

22:20 Uhr statt meine Nesselprobe für die nächste Jacke zu nähen hab ich also mal wieder intellektualisiert. Jetzt schau ich noch eine Runde Craftsy-Kurs über das Konstruieren von Ärmeln und strebe an, um 23 Uhr das Licht auszumachen.