Weshalb ist diese Strömung so anfällig für Totalitarismus?
von @zusehrverkuerzt
Im dritten und letzten Teil meiner Gastbeitragsserie (Teil 1, Teil 2) möchte ich anhand von ein paar Beispielen erklären, wie Essentialismus in der Praxis zwangsläufig in totalitären Tendenzen mündet.
Mein Eindruck ist, ohne die essentialistischen Gründe für den Furor der SozialkonstruktivistInnen zu verstehen, kann man als empirischer Rationalist auch nicht verstehen, warum die Vielfalt der Geschlechter für die queeren Sozialkonstruktivisten einen derart religiösen Charakter einnimmt. Denn ich weiss ja, dass ‚Junge‘ und ‚Mädchen‘ nur Kategorisierungen darstellen und sonst nichts, keinerlei moralische Implikation beinhalten, und nicht bedeuten, dass alle Jungen gleich sind, oder dass alle Mädchen gleich sind (aber immer anders als die Jungen, wie von den alten Traditionalisten oft auch aus (anderen) essentialistischen Gründen behauptet), oder dass es nichts anderes gibt als genau diese zwei Möglichkeiten. Man kann den meiner politischen Meinung nach nicht vertretbaren *konservativen* und *religiösen* (auch oft essentialistischen) Widerstand gegen die Öffnung der Gesellschaft in Bezug auf Menschen mit nicht ‚eindeutigen‘ Geschlechtsidentitäten oder sexuellen Präferenzen nun wirklich nicht den nicht-Essentialisten in die Schuhe schieben, und all die interessanten Dinge über die Biologie der nicht-eindeutigen Geschlechter haben ja nun auch die MedizinerInnen herausgefunden und nicht die Sozialkonstruktivisten. Genauso, wie auch die MedizinerInnen herausgefunden habem, wie gefährlich es sein kann, wenn man Medikamentenstudien immer nur an Männern macht, auch wenn die Sozialkonstruktivisten nun so tun, als wäre diese Offenbarung auf ihrem Mist gewachsen. Die SozialkonstruktivistInnen dagegen hatten große Schwierigkeiten, aus einer dialektischen Tradition des Denkens zumindestens partiell auszubrechen: Was für alle anderen Menschen ganz normal ist, nämlich dass es mehr als These und Antithese gibt, ist für das dialektische Denken ein Problem, daher sind sie so Stolz auf ihre angebliche Leistung der bahnbrechenden Erkenntnis, dass es nicht nur 2 immer eindeutige Geschlechter gibt.
Umgekehrt ist es natürlich so, dass die empirischen Rationalisten Naturwissenschaft als etwas befreiendes empfinden. Ihr vertiefendes Verständnis der Natur ermöglicht medizinische, mechanische, elektronische Technologie, welche unser Leben verlängert, verbessert, unsere Entfaltungsmöglichkeiten vervielfacht (man denke nur an das größte Geschenk, das die Elementarteilchenphysik den Sozialkonstruktivistinnen machte: Das freie World Wide Web.), uns von dem Zwängen der Natur befreit (man denke nur an die Pille oder das einigermassen sichere Kondom, welche nicht wirklich eine Erfindung der Sozialkonstruktivisten sind). Für den/die empirischen Rationalisten ist das überkommene Patriarchat in den Naturwissenschaften ein von der naturwissenschaftlichen Methodik unabhängiges Phänomen. Warum sollte die objektiv korrekt vorhergesagte und objektiv messbare Masse des Higgs-Bosons auch irgend etwas damit zu tun haben, dass Naturwissenschaft in einer der patriarchalsten Phasen der Menschheitsgeschichte gross geworden ist und daher Wissenschaftler ihre gesellschaftlichen Wertvorstellungen dort übernahmen, wo sie ihre Mitarbeiter aussuchten. Dafür gibt es objektiv in der naturwissenschaftlichen Methodik keinen Grund. Wir können also, ohne an Theorien und Ergebnissen (die wir aus anderen Gründen sowieso *dauernd* hinterfragen und kritisieren, auch wenn die Sozialkonstruktivisten uns das nicht glauben und nicht verstehen, wie wir das machen) oder der Methodik etwas zu ändern, einfach andere normative Vorstellungen über die Rolle der Geschlechter in die Naturwissenschaft integrieren, Frauen wesentlich besser fördern als bisher (es lässt sich unzweifelhaft experimentell nachweisen, dass Frauen in der Vergangenheit und bis heute mal mehr, mal weniger als Wissenschaftlerinnen benachteilgt wurden, und das ist für mich inakzeptabel), und dann mit der gleichen wissenschaftlichen Methodik noch besser weitermachen als zuvor.
Der/die Essentialist kann das nicht so einfach: Die Essentialisten begreifen Naturwissenschaft als Teil des patriarchalen Hegemonialzusammenhangs, sie sind wesenhaft verknüpft mit der Herrschaft des weißen Mannes, denn sie sind seine Schöpfung. Daher ist die Naturwissenschaft aus ihrer Sicht inhärent rassistisch und patriarchal, und muss grundlegend anders konstruiert werden, um gerettet zu werden, und auch alle Ergebnisse und Theorien der Naturwissenschaften müssen sozial hinterfragt werden. So, als hätten wir die Funktion eines Transistors mit der Natur sozial ausgehandelt. Dass sie dann inhaltlich nicht mehr funktionieren würde, kein WWW oder die Pille oder Antibiotika erfinden könnte (oder zumindestens die Technologie für solche freiheitserweiternden Erfindungen nur noch ganz langsam zufällig entdeckt würde, so wie im technologisch fast stillstehenden vorwissenschaftlichen Zeitalter): egal. Und hier sieht man einmal mehr das Totalitäre ihrer Forderungen: Wesenshafte willkürliche Festlegungen über die Natur der Geschlechter und der Herrschaft werden benutzt, um alles, auch noch das evon der politischen und sozialen Kultur des Menschen entfernteste als „illegitim“ zu „konstruieren“.
Ein anderer lustiger Aspekt liegt im Vergleich der schon dargestellten Folgen der sozialkonstruktivistischen Sicht auf die Geschlechter mit religiösen Formen des essentialistischen Dogmatismus: Die Essentialsten greifen natürlich inhaltliche Aussagen über die Grundlage unserer Gesellschaft und biologische Aussagen über Tendenzen in unserem Verhalten am allerliebsten an. Etwas über das Higgs-Boson herauszufinden kann ihnen relativ egal sein. Sie mögen sich über die Teilchenphysik lustig machen, weil sie sie nicht verstehen (was dann wiederum unendlich amüsant ist, wenn man den methodischen und inhaltlichen Schrott liest, der dabei herauskommt, wenn sie Naturwissenschaft aus ihrer Sicht ‚hinterfragen‚), aber sie greifen sie selten frontal an. Genauso, wie sich Kreationisten auch nicht aufs Higgs stürzen, und lustigerweise noch nichtmal auf den Big Bang, sondern auf die Evolution. Die Theorie und Beobachtung der Evolution mit ihrer naturalistischen Erklärung der Natur und der temporären Entwicklung des Menschen untergräbt die göttliche Schöpfung *komplett*. Genauso bei den Essentialsten: Die Idee, dass es nicht nur wie oben beschrieben Definitionen, Werte und Regeln sind, auf denen (ihrer Meinung nach) die Gesellschaft komplett beruht, zieht ihrer Weltsicht den Boden unter den Füßen weg. Eine testbare Aussage, dass “Jungen“ und “Mädchen“ (eine reine Kategorisierung mit im Prinzip fließenden Grenzen in der Wissenschaft, wesenshafte Aussagen über ihre Gleichheit und Gleichwertigkeit für die Sozialkonstruktivisten) sich von der Geburt an oder sogar qua gesellschaftlich unsichtbarer Herkunft ihrer Chromosomen in bestimmten Punkten anders verhalten (was empirisch belegt ist, aber ohne Essentialismus auch ohne jede moralische direkte Konsequenz ist), ist für die Essentialisten notwendigerweise eine Wertaussage über ihre gedachte, konstruierte Version des Ideals “Junge” und “Mädchen”. Weil sie aus Gründen eines Werturteils aber zu dem legitimen Schluss gekommen sind, dass Jungen und Mädchen und alles andere gleichwertig sein soll, können sie diese Aussage nicht akzeptieren, sie ist in ihren Augen moralisch verwerflich, auch wenn sie aus Sicht der Wissenschaftlerin gar nichts moralisches an sich hat. Denn sie können zwischen Werturteil und testbarer Aussage über die Realität nicht unterscheiden, weil all ihr ‘Wissen’ konstruktionsbedingt in Werten (und Definitionen) steckt.
Da liegt dann die ganze Tragik offenbar: Sie werfen liberale Kritiker ihrer Fehlschlüsse mit religiösen Irren in einen Topf, und begreifen gar nicht, dass sie von den Liberalen kritisiert werden, eben weil sie exakt die gleichen Fehler machen und exakt die gleiche Taktik anwenden wie die Kreationisten, also religiöse Irre.
Und noch ein anderer lustiger Nebenaspekt: Die Weltsicht der essentialistischen Sozialkonstruktivisten kollidiert natürlich überall mit der Realität, aber an eine Stelle finde ich es ganz besonders lustig: Bei sexueller Identität und Transgender. Denn natürlich sagt ihnen ihre Idee von Freiheit, dass es nicht nur Mädchen und Jungen gibt, und nicht nur XY Jungs, die sich als Mädchen fühlen, und so weiter. Nur laufen wir jetzt in ein kleines Paradoxon ihn ihrer Denkweise: Z.B. ein Schwuler ist schwul (etwas anderes als dies essentialistische Aussage können sie ja nicht denken). Er darf nicht nur nicht ‚umerzogen’ werden, es ist auch verboten verpöhnt, zu behaupten, es wäre seine Wahl gewesen. Nur dummerweise *darf* es ihrem Dogma nach keine biologischen Grundlagen unseres Verhaltens geben, denn dann gäbe es ja eine nicht direkt per Beschluss beeinflussbare Realität, welche unser gesellschaftliches Handeln viel stärker bestimmt als uns u.U. bewußt ist. Daher sind wir nun in der paradoxen Situation, dass der Schwule offenbar *transzendent* schwul ist, nämlich unabhängig von seiner biologischen (z.B. hormonellen) Konstitution. Die Hypothese aufzustellen, ein Schwuler wäre schwul, weil er halt hormonell anders gepolt ist, das würde einen tollen Shitstorm ergeben. Denn das wäre ja biologistisch. Das gleiche bei Transgender: „Gender“ ist per Definition wesenhaft gesellschaftlich. Das ist ja gerade der Unterschied zwischen Gender und Sex. Aber ein Transgender ist so, wie er/sie ist, und kann nicht umerzogen (umkonstruiert?) werden und hat keine freie Entscheidung. Deadlock, hm? Und wenn man jetzt noch nicht sieht, dass der essentialistische Sozialkonstruktivismus eine abgefahrene Religion ist, dann weiß ich auch nicht.
Die Konfrontation zwischen den im weitesten Sinne liberaler agierenden ProponentInnen der Gleichberechtigung und den SozialkonstruktivistInnen hat also nicht so sehr etwas damit zu tun, dass die Essentialsten machtbesessen sind, und einfach machtbewusste Strömungen in einer politischen Bewegung gegeneinander antreten, so wie z.B. von Katrin Rönicke hier behauptet. Sondern es geht um einen Kampf der Kulturen. Der Essentialismus bekämpft das, wo seine Vertreter bemerkten, dass Inhalte in die Sphäre der essentialistischen Jünger drängen, die den Essentialismus untergraben könnten. Deshalb lassen z.B. die illiberalen Netzfeministinnen auch z.B. @drehumdiebolzen (inzwischen, das war mal anders, als sie mit denen noch direkter in Kontakt war) in Ruhe: Sie zeigt ihnen nur die Zähne, aber sie machst nichts mehr, was die Jünger des Essentialismus subtil verunsichern könnte. Im Gegensatz dazu sind Katrin Rönicke oder @erzaehlmirnix lohnende Ziele für die illiberalen Netzfeministinnen, denn sie erreichen die naturwissenschaftsfernen gebildeten Schichten, welche für den Sozialkonstruktivismus so wichtig sind.
Vielleicht lohnen sich noch einige Worte zum Schluss. Natürlich gibt es gerade jetzt in unserer Gesellschaft wesentlich gefährlichere Feinde der Freiheit als die essentialistischen Sozialkonstruktivisten. Die Sozialkonstruktivisten sind größtenteils von humanistischen Motiven getrieben, was ich achtenswert finde. Es ist ’nur‘ ihre Methodik, welche sie intolerant macht. Viele, die ich kenne, sind nette Menschen, die niemandem etwas tun wollen.
Im Kontrast dazu ist der Essentialismus auch die Basis des Nationalismus, denn ohne wesenshafte Zuschreibung kann einem abstrakten Konstrukt wie dem Volk oder der Nation oder einer bestimmten Kultur natürlich gar kein Wert an sich zugewiesen werden. Und es ist offenbar, dass gerade jetzt die Herabwürdigung und Verfolgung von Menschen qua Herkunft oder Kultur aus Motiven der Xenophobie und der Angst eine große Gefahr darstellt, und natürlich können die essentialistischen SozialkonstruktivistInnen nichts dafür, dass ihre rechten und religiösen GegnerInnen auch Essentialisten sind, wenn auch im Normalfall wesentlich dümmere. So dumm, dass die rechten Essentialisten wirklich keinen Blogpost wert sind.
Von daher könnte man sich berechtigt fragen, warum gerade jetzt dieser ganz kleine Versuch der Weiterentwicklung einer auf den ersten Blick doch recht obskuren Debatte unternommen wird. Zum einen, weil ich einiges schlicht in der geistigen Schublade hatte und die Anfeindungen gegen die von mir geschätzte Katrin Rönicke mal wieder einen zufälligen Anlass bot. Auch wenn Katrin mir wahrscheinlich in vielem nicht zustimmen würde. Ich nehme noch dazu an, ihr ist meine Meinung egal.
Zum anderen aber, weil ich die linken Feinde Europas gerade gewaltig politisch gefährlich finde. das Projekt Europa ist eine Chance, den 200 Jahre alten (essentialistisch motivierten) politischen Irrtum des völkisch orientierten Staats mit eingebautem nationalen Wahn zu überwinden, und noch dazu die einzige reale Chance, politische Handlungsoptionen wieder zu vergrößern, was ganz praktisch nur mittels vertiefender Integration möglich sein wird. Die Angriffe der SozialkonstruktivistInnen auf Europa als essentialistisch wesenshaft ’neoliberal‘ bezeichnetes und damit automatisch illegitimes, asoziales, teilhabefeindliches und antiemanzipatorisches Projekt halte ich gerade dann für eine Gefahr, wenn Europa aufgrund genuinen xenophoben Hasses der größten Gefahr seiner Geschichte ausgesetzt ist. Man stelle sich vor, es gibt Veröffentlichungen, die sich für wissenschaftlich halten, in denen steht schon im Abstract „it also reflects a failure on the part of much of the resistance to adequately identify, and engage with, all of the terrain on which the battle against neoliberalism [in the EU] must be fought„. Das ist keine Wissenschaft, das ist Politik. Diese Debatte ist unendlich wichtig, aber es ist eine politische Debatte mit offenem Ausgang, ob wir in der EU mehr oder weniger Integration, mehr oder weniger soziale Sicherung wollen. Solche Wert- und Zielaussagen können, wie hier dargelegt, nur wissenschaftlich erscheinen, wenn man essentialistisch implizit Werte in seine Theoriebildung einbaut. Und genau deshalb denke ich, gerade jetzt ist es Zeit für diese Debatte.